I inhale the young forest's soul,
During the beautiful green season"
(Blood Axis "Absinthe" 1995)
Ok. Absinthe (wird hier ab jetzt mit "e" geschrieben) ist zur Zeit vielleicht nicht DER Burner im Barbusiness, oder? Gut, es gibt einen Absinthe, der eigentlich keiner sein will (dann wohl auch ohne "e"). Aber das mag man in diesem Fall auch gerne akzeptieren. Aber sonst? Der "Mixologe des Jahres" und bekennender Absinthefan Klaus St. Rainer hatte gerufen und so war ich einigen Unverzagten zum Absintheseminar in die "Goldene Bar" gefolgt. Dort referierte Markus Lion von "Lion Spirits" höchstpersönlich über Geschichte (davon gibts genug), Herstellung (nicht uninteressant) und aktuelle Qualitäten (zum Teil überraschend) der grünen Fee. Nebenbei gab es allerlei eventuell mal nützliches Wissen zu Broilleurs, Fontaines und Fin De Siecle. Ich hatte irgendwie geahnt, dass es französisch werden würde.

Halluziniert hat meines Wissens (leider) keiner der Seminarteilnehmer nach dem Absinthegenuss und auch Ohren wurden nicht abgeschnitten (höchstens abgekaut). Ob sich neuerdings einer zu einem ähnlich großflächigen Marilyn Manson-Tattoo, wie es die oben abgebildete Dame mit sichtbarem Stolz trägt, hingezogen fühlt, blieb mir bisher verborgen.


whatadrink: Markus, du hast in letzten Jahren nicht nur einige interessante Nischenprodukte in deinen Vertrieb aufgenommen, sondern sogar einiges davon mitentwickelt. Wie schaffst du es, am Puls der Cocktail- und Barwelt zu bleiben?
Markus Lion: Ich fühle mich sehr geschmeichelt (lacht). Der Punkt ist, dass ich schon immer ein Faible für kultige Sachen, wie z.B. französische Aperitifs wie "St. Raphaël" oder "Suze", hatte. Setzt man sich damit auseinander, so stellt man sehr schnell fest, dass es noch viel mehr in dieser Richtung gibt. Wenn man dann aktiv ein oder zwei Sachen mitentwickelt hat, so lernt man auch leicht Leute kennen, die noch andere Dinge kennen und einen so ein Stückchen weiter bringen. Ein alter Absinthefreund von mir aus den USA hat diesen Geschäftszweig mittlerweile aufgegeben und fungiert als Importeur unserer Abfüllungen für die USA. Mit seiner Firma ist er aber in die Herstellung von anderen Spirituosen wie einem Crème De Cacao und einem Crème De Violette eingestiegen. Zudem will er bald einen Single Barrel Ryewhiskey und ein Remake des "Abbott's Bitters" auf den Markt bringen. Wir stehen in engem Kontakt und pflegen auch unsere geschäftliche Zusammenarbeit. Diese Dinge bringe dann natürlich ich in Deutschland auf den Markt.
wad: Der "Gran Classico" wurde an vielen Stellen sehr positiv beschrieben. Es ist ein Bitter der gerne mit "Campari" verglichen wird.
ML: Ja, das ist auch ok. Der "Gran Classico" soll ja das darstellen, was "Campari" vielleicht vor 100 Jahren produziert hat. Wir wollen den Italienern da natürlich nichts wegnehmen, können das ja auch gar nicht. Und haben auch nicht Möglichkeiten das im Genauesten zu recherchieren. Wir können neben dem Industrieprodukt aber ein artisanales Produkt hinstellen und vielleicht ist die doch sehr aktive Barkeeperszene in Deutschland auf der Suche nach solchen handgemachten Produkten, die es eben nicht in jedem Supermarkt gibt.

ML: Ich sehe das so: Ein Barkeeper ist eine Vertrauensperson. Dieses Vertrauen wird ihm entgegengebracht, weil er dem Gast ein positives Erlebnis vermittelt. Beim BCB haben wir übrigens keinen Stand belegt, da wir gesagt haben, dass wir lieber rumlaufen und uns mit den Leuten unterhalten, um so den einen oder anderen Trend aufzuspüren, als dass wir fix an einem Punkt stehen und gar mitkriegen, was um uns rum passiert. Das war die richtige Entscheidung.
wad: Nochmal zurück zu dem Punkt "Nischenprodukt und Industrieprodukt". Ich finde es schade, dass mancher Hersteller offenbar nur auf Zahlen und Bilanzen schaut und nicht fähig ist Abfüllungen nach historischer Rezeptur - Stichwort: "Kina Lillet" - auf den Markt zu bringen. Das kann doch als imagebildende Massnahme auch mit limitierten Auflagen o.ä. geschehen.
ML: Die Entscheider sind ja letztlich Kaufleute. Dass die nicht den Enthusiasmus eines kleinen Herstellers mitbringen, liegt auf der Hand. Ich weiß, dass wir vom Absinthe "Nouvelle Vague" im Jahr nur ein paar hundert Flaschen verkaufen. Aber ich würde den auch machen, wenn ich den überhaupt nicht verkaufen könnte, weil ich ihn geil finde.
wad: Du bist da natürlich unabhängiger und kannst auch reagieren, wenn doch Nachfrage entsteht. Bei "Mansinthe" habt ihr sicher auch klein angefangen?
ML: Äh, eigentlich nicht. Da haben wir richtig reingehauen, weil wir von Anfang an eine sehr große Nachfrage hatten. Für unsere Verhältnisse ist das quasi ein Massenprodukt. Aber trotzdem können wir mit gutem Gewissen sagen, dass der "Mansinthe" aus den gleichen Bestandteilen besteht wie alle anderen unserer Absinthe - nur eben mit einer leichteren Rezeptur. Da wir ihn so günstiger produzieren, können wir ihn auch günstiger anbieten. Der kommt überall gut an und ist von Kanada bis Neuseeland verfügbar.

ML: Das Problem ist, dass es eben keine gesetzliche Kategorie namens Absinthe gibt, die einen gewissen Qualitätsstandard definiert. Aus diesem Grund gibt es Ramschprodukte. Und wer einmal negative Erfahrungen gemacht hat, ist nur schwer zurückzugewinnen. Das Fachpublikum ist da für Erörterungen zu den Unterschieden in der Herstellung etc. sehr aufgeschlossen. Aber Gin lässt sich sicher viel leichter verkaufen. Absinthe ist aber eben auch keine Billigspirituose, wenn er gut gemacht ist.
wad: Wie groß ist der Einfluss der Basisspirituose auf das Endprodukt?
ML: Die heute erhältlichen Neuralalkohole sind so neutral, dass sie keinen Einfluss haben. Wir verwenden sehr feinen Getreidealkohol von der Eidgenössischen Alkoholverwaltung, der zudem auch günstiger als Weinalkohol ist. Die Verwendung von letzterem würde sich im Vergleich zum Getreidedestillat vielleicht bei längerer Fasslagerung des Absinthes für 5 bis 6 Jahre z.B. bemerkbar machen.
wad: Woher bezieht ihr die anderen Ingredenzien?
ML: Unser Wermut kommt aus fünf verschiedenen Quellen. Ein Lieferant ist in Frankreich, zwei in der Schweiz, einer im mediterranen Raum und einer auf dem Balkan beheimatet. Die verschiedene Herkunft bringt verschiedene Charktere mit und damit spielen wir bei der Herstellung bzw. Entwicklung. Die Unterschiede sind enorm. In erster Linie beziehen wir aber unsere Botanicals von einem 5km entfernten Kräuterhof, der auf sehr hohem Niveau produziert.

ML: Ja schon. Ich habe auch mehrere alte Flaschen zuhause. Als ich zum ersten Mal richtig alten Absinthe von ca. 1910 probieren konnte, war ich begeistert von der Intensität und Cremigkeit dieses absolut delikaten Stoffs. Der hohe Alkoholgehalt führt sozusagen zu einer Selbstkonservierung.
Abschließend sei noch auf die beiden 10"/CDs namens "Absinthe - La Folie Verte" und "Absinthia Taetra" aus den Jahren 2002 und 2004 hingewiesen, die im Rahmen einer Kollaboration der Neo Folk / Industrial-Formationen "Blood Axis" und "Les Joyaux De La Princesse" aufgenommen wurden. Genau der richtige Soundtrack für die grüne Fee...